Erfahrungsbericht Medikationssicherheit
Interviewpartner:
Dr. med. Christian Marti (ChM), Allgemeininternist, Auditor EQUAM Stiftung
Dr. med. Andrea Schindler (AS), Co-Geschäftsführerin Praxis Bubenberg AG
Herr Marti, warum interessiert Sie das Programm der Medikationssicherheit besonders?
ChM: Im Mittelpunkt dieses Programms stehen komplexe Patientinnen und Patienten[1] und ihre sichere Medikation. Es ist entscheidend, dass man sie mit ins Boot holt. Sie müssen darauf bestehen, dass jede Änderung der Medikation auf ihrem Medikationsplan eingetragen wird. Diese Patientinnen und Patienten, die den Arzt oder das Spital aufsuchen, müssen ihren Medikamentenplan immer bei sich haben. Die Ärztinnen und Ärzte müssen mit ihnen regelmässig überprüfen, ob sie noch alle Medikamente brauchen, aber auch, ob keine Behandlungslücken bestehen. Das übergeordnete Ziel ist eine sichere Medizin mit Augenmass.
AS: Die Praxis Bubenberg lässt sich seit Jahren von der EQUAM Stiftung überprüfen und hat sich laufend verbessert. Ich persönlich sehe in diesem Programm ein grosses Potenzial. Ein wichtiges Element für mich ist der Medikationsplan. Wie konsequent wird dieser aktualisiert? Oder mit der Diagnoseliste abgeglichen? Der Medikationsplan ist ein wichtiges Hilfsmittel für die Ärztinnen und Ärzte und auch für die Patienten. Sie haben damit Übersicht über die Medikation, Dosierung und sind für dieses Thema sensibilisiert. Die Patienten übernehmen vermehrt Eigenverantwortung im Alltag. Das merken wir auch bei der Schnittstelle zum Spital: Werden dort Medikamente verschrieben, melden sich unsere Patienten bei uns, um die Medikationsliste anzupassen. Oder wir sprechen sie aktiv darauf an.
ChM: Ein weiterer Aspekt ist, dass das ganze Praxisteam einbezogen ist. Je grösser eine Arztpraxis ist, je mehr Ärztinnen und Ärzte – auch praxisexterne – an der Behandlung beteiligt sind, desto anspruchsvoller ist die sichere Medikation. Die Rollen und Kompetenzen müssen zwischen der Ärztin, dem Arzt und den Praxisassistentinnen definiert und dokumentiert werden. Zum Beispiel: Wie geht man vor, wenn ein Patient nur Medikamenten-Nachschub will, aber keine Konsultation?
Welche Vorteile bringt eine Zertifizierung «Medikationssicherheit» einer Ärztin / einem Arzt? Was bringt sie den Patientinnen und Patienten?
ChM: Der Zertifizierungsprozess verlangt nach einer gewissen Systematik. Die Dossiers der Komplexpatientinnen und -patienten werden markiert. Diese werden nach speziellen Sicherheitsregeln betreut, z.B. zu jedem Dauermedikament gehört eine medizinische Begründung und eine Beurteilung, ob das Medikament überhaupt wirkt.
Betrachten die Ärztin, der Arzt für sich allein oder zusammen mit dem Auditor eine Stichprobe der Komplexpatientinnen und -patienten, bekommen sie plötzlich ein Gesamtbild. Meist zeigen sich dann Lücken, wo etwas noch nicht optimal funktioniert.
Die Patientin, der Patient bekommt eine medikamentöse Behandlung, die sinnvoll und möglichst sicher ist ─ und die sie verstehen.
Welches sind die Herausforderungen und wichtigste Werte in der Rolle eines Auditors?
ChM: Vor Ort überprüfe ich, wie die Umsetzung der Vorgaben, bzw. der Sicherheitsregeln funktioniert. Dies geschieht auf Augenhöhe unter erfahrenen Ärzten. Die entscheidende Voraussetzung dafür habe ich als Leiter von Qualitätszirkeln erworben: dem Problem respektvoll und lösungsorientiert auf den Grund zu gehen. Es geht nie darum, jemanden blosszustellen, sondern etwas zu lernen und sich zu verbessern.
AS: Ich hatte ein gutes Audit mit einem wohlwollenden Fachgespräch mit dem Auditor. Wir haben die Fehler und den Umgang damit konstruktiv besprochen und ich konnte einiges davon für den Praxisalltag mitnehmen.
Ein grosser Teil des Audits verläuft also in Form eines Peer Reviews. Was heisst dies?
ChM: Es ist eine Art Standortbestimmung unter Einbezug eines Sachverständigen. Der nächste Schritt ist ein Massnahmenplan zur Weiterentwicklung der Medikationssicherheit auf der Arzt- und Praxisebene.
Welche Rückmeldungen erhalten Sie von den Ärztinnen und Ärzten?
ChM: Es sind vor allem folgende drei:
«Ich bin überzeugt, dass die Behandlung meiner Patientinnen und Patienten sicherer geworden ist.»
«Der Anfang ist zwar etwas aufwändig. Übersicht zu schaffen, kostet Zeit. Übersicht zu haben, spart Zeit – für alle in der Praxis.»
«Ich habe Vieles gelernt.»
Wo sehen Sie die grössten Stolpersteine einer Zertifizierung?
ChM: Für ein Ärztenetz ist die EQUAM Zertifizierung vergütungsrelevant. Gewisse Krankenversicherungen berücksichtigen nämlich die EQUAM Zertifizierung bei der Steuerungsvergütung. Entscheidend für eine Zertifizierung ist aber die intrinsische Motivation. Wenn eine Ärztin, ein Arzt die Zertifizierung nur aufgrund von Netzvorgaben machen muss ohne den Sinn zu sehen, wird es für mich als Auditor schwierig.
Welche Erkenntnisse ziehen die Ärztinnen und Ärzte für sich aus dem Zertifizierungsprogramm?
ChM: Es lohnt sich, für besonders gefährdete Patientinnen und Patienten spezielle Standards, bzw. Routinen zu entwickeln sowie die Rollen und Verantwortlichkeiten innerhalb der Praxis zu klären. Immer mehr Praxen entdecken, dass die Praxisassistentin gewisse Aufgaben, wie den Medikamentenabgleich, übernehmen und dadurch den Arzt entlasten kann.
Die EQUAM selbst macht keine Vorgaben, wie eine Praxis ihre Prozesse gestaltet. Das Ziel ist eine möglichst hohe Medikationssicherheit. Es führen viele Wege dorthin.
AS: Ich bin froh, dass sich unsere Ärztinnen und Ärzte in der Praxis mit der Medikationssicherheit auseinandergesetzt haben. Es deckt die eigenen Unzulänglichkeiten auf und gibt konkrete Hilfsmittel und Empfehlungen mit auf den Weg. Jede Praxis muss dann für sich diese im Rahmen des Möglichen umsetzen. Bei uns hat es zum Beispiel Anpassungen in der Software zur Folge gehabt. Diese erleichtern uns unsere tägliche Arbeit. Weiter haben wir eine Koordinatorin (MPA) in der Praxis definiert, welche sich um die Zertifizierung kümmert und die Ansprechpartnerin für uns intern und die EQUAM Stiftung ist.
[1] polymorbid oder polymediziert oder mit Risikomedikamenten behandelt